Die Fotos können größer geklickt werden. Dann erscheint im linken Bild auch eine grün gefärbte Standortform.
Auf der Schwäbischen Alb sind mir drei Standorte der Dach-Hauswurz (Sempervivum tectorum) bekannt, die autochthon sein könnten. Den einen Standort kenne ich seit Ende der 90er-Jahre, ich fand auch einen Literaturbeleg dieses Standortes von 1900. Den anderen Standort entdeckte mein damals 12-jähriger Neffe im Jahr 2011, nachdem ihm Standort 1 gezeigt worden war und sein Blick dadurch geschärft war.
Ungefähr 50 km nordöstlich dieser beiden Standorte hat Dipl.-Biol. Michael Koltzenburg bereits Mitte der 90er-Jahre einen Standort von Sempervivum tectorum ausgemacht und dokumentiert.
An all diesen Standorten sind nur sehr wenig Rosetten vorhanden, sodass infolge dieses hohen Gefährdungsgrades im Gegensatz zu den Hauswurzen an der Lochen diese Fundorte hier nicht genauer verortet werden. Der nördliche Standort befindet sich außerdem in einem Naturschutzgebiet abseits der Wege.
Die Nennung von Sempervivum tectorum auf dem Lochenstein in diversen Publikationen und Floren beruht auf einer Fehlbestimmung (siehe "Sempervivum globiferum").
An einer Felswand nahe dem ältesten Bereich einer abgelegenen, früheren Burg auf der Schwäbischen Alb wachsen nicht nur grünrosettige Dach-Hauswurzen (S. tectorum) in drei Polstern, sondern auch eine - wenn sie nicht völlig überwachsen ist - weit eher ins Auge fallende, großrosettige Standortform. Diese große Form, die hier in zwei Rosetten-Polstern vorkommt, ist purpur-violett-grau sowie manchmal innen grün gefärbt und wächst knapp unterhalb der Felskante eines Bergspornes.
Es könnte sich hier angesichts dieses Fundorts um Nachkommen von „Burgflüchtlingen" (aus dem Burggarten) handeln. Der Fund des Standortes 2 allerdings, von dem keine Überreste menschlicher Bauten bekannt sind, bringt diese Hypothese ins Wanken.
Die infolge ihrer Größe und Färbung auffällige Standortform wächst inmitten der Felskopf-Vegetation der Kante auf einem kleinen Absatz. Die blass purpurviolett-grauen Rosetten sind nach SSW exponiert. Diese im ausgewachsenen Zustand über handtellergroßen Rosetten wachsen in zwei großen Rosettenpolstern. In der Skizze oben sind sie mit der Feldnummer MWS0001 codiert.
Eines dieser Polster liegt inmitten der Vegetation vor einer kleinen Kiefer inmitten extrem kleinwüchsiger Bibernell-Rosen (Rosa pimpinellifolia), die übrigens als Reliktpflanzen der letzten eiszeitlichen Kaltzeit gelten, und inmitten von Berg-Lauch (Allium montanum).
Das andere wächst näher der weißen Kalkfelswand und bietet einen reizvollen Kontrast hierzu.
Die "normal" grün gefärbten Dach-Hauswurz-Rosetten an diesem Standort (MWS0002) wachsen zum einen am äußersten Rande des Felskopfes eines Felspfeilers.
Dieser Felspfeiler ist zusammen mit einem zweiten dem Felsabbruch vorgelagert.
Auf dem Felskopf sind südexponiert zwei Rosettenpolster des grünen Standorttyps zu finden (Markierung 1 und 2 auf dem Foto links).
Ein Polster ist durch einen Busch verdeckt (Markierung 2).
Ein weiteres Polster des grünen Standorttyps (MWS0002) wächst in Falllinie unter MWS0001 (=den zwei großrosettigen purpur-violett-grauen Rosetten-Polstern an der Kante).
Die Rosettenblätter dieser drei "normal gefärbtem" Polster sind grünlaubig (gelbgrün bis frischgrün) und deren Spitzen sind auffällig purpurrot-graubraun gefärbt.
Dieses Rotbraun hat eine ähnliche Färbung wie die Rosettenblätter von MWS0001, während MWS0001 interessanterweise im Gegensatz hierzu an den Rosettenblatt-Spitzen ähnlich getönt ist wie wie die Rosettenblätter von MWS0002.
Ende Juli 2001 blühte MWS0002.
Es handelte sich um das Rosetten-Polster, das - verdeckt durch einen Busch - ebenfalls auf dem Pfeilerkopf wächst.
Diese Aufnahme gibt erste Hinweise dass es sich hierbei nicht um das Taxon murale handelt (den Kultivar mit meist abnorm abgewandelten Staubblättern), denn die Geschlechtsorgane (Staubblätter und Fruchtblätter) sind - wie auf der Aufnahme links deutlich zu sehen ist - nicht verkümmert bzw. umgewandelt. Auch sind wie für Sempervivum üblich 2 Staubblattkreise und ein Fruchtblattkreis zu sehen. Bei dem alten Kultivar der Dach-Hauswurz ist auch dies meist abgewandelt.
Bei diesem verbreiteten, alten Kultivar der Dach-Hauswurz (Sempervivum tectorum), der mitunter als Taxon murale abgegrenzt wird, sind im Gegensatz dazu die Staubblätter verkümmert und zu Staminodien (siehe Fußnoten) umgewandelt. Es sieht so aus, als ob es drei Fruchtblattkreise gebe, anstatt wie normal zwei Staubblattkreise und einen inneren Fruchtblattkreis.
Bei diesen abnormen Blüten ist es auch häufig so, dass die Kronblätter nach oben gekrümmt sind. Allerdings sind diese Blütenmerkmale nicht 100prozentig konstant, auch nicht an ein- und demselben Blühtrieb. Sie erfordern genauere Untersuchung.
Vor 160 Jahren war das Plateau des Bergsporns an dieser Stelle noch unbewaldet. Ein Literaturbeleg von 1900 lautet: „Die 10 Morgen große Fläche des Burghofs, die Quenstedt vor 50 Jahren noch als ‘sonnigen Rasen’ schaute, ist jetzt völlig mit Tannen überwachsen: doch gewährt der Rand auf dem hervorragenden (Schwamm-Beta=)Felsen einen reizenden Ausblick auf ... und das ...thal. Merkwürdigerweise wächst auf seiner äußersten Spitze, da zum Glück niemand beikommen kann, eine Gruppe von Hauswurzstöcken (Sempervivum tectorum L.), vielleicht Gartenflüchtlinge aus den Zeiten des alten Schlosses."*
Es handelte sich dort eher um eine Burg als um ein Schloss. Vor Ort wurden auch vorgeschichtliche Befestigungsanlagen und Siedlungsreste (aus der Stein-, Urnenfelder-, Hallstatt- und Römerzeit) nachgewiesen. Im Jahr 1211 wurde dann erstmalig die mittelalterliche Burg erwähnt. 1557 erfolgte der endgültige Abbruch der baufälligen Gebäude. Somit müsste eine Kultivation in einem Burggarten lange her sein...
In obigem Zitat steht: „... da zum Glück niemand beikommen kann, ...". Dieser Einschub weist einmal darauf hin, dass um die Jahrhundertwende im Bereich der Schwäbischen Alb Hauswurzen zumindest bei Touristen sehr begehrt waren, so dass der Autor offensichtlich eine Gefährdung durch Entnahme aus der Natur fürchtete. Diesen Aufzeichnungen zufolge sind die Dach-Hauswurzen an dieser Stelle inzwischen womöglich an Zahl zurückgegangen, denn damals gab es seinen Angaben nach „eine Gruppe von Hauswurzstöcken". Die Zunahme der Vegetation (Verbuschung, Baumwuchs, Nährstoffanreicherung) stellt offensichtlich eine Gefahr dar, die erst seit den letzten 100 Jahren wie ein Damoklesschwert über den Hauswurzen und anderen spezialisierten Felspflanzen droht.
Mein Neffe entdeckte im April 2011 an einem von Standort 1 nicht weit entfernten Berg ebenfalls Sempervivum tectorum.
Sie wachsen an einem steilen, felsigen Abhang. Es sind nur wenige Rosetten, der Standort umfasst nur einige wenige Quadratmeter. Größe und Färbung der Rosetten sind nicht einheitlich.
Dieser Fund führt dazu, dass man die Sempervivum tectorum an Standort 1 in einem neuen Licht sehen muss, denn die hier gefundenen Dach-Hauswurzen ähneln denen, die im Französischen und Schweizer Jura zu finden sind - der Jura und die Schwäbische Alb sind derselbe Gebirgszug und nur durch den Rhein getrennt. Auch hier sind die grünlich und nicht selten auch rötlich-violett gefärbten Rosetten deutlich größer als an ähnlichen Stellen.
Gérard DUMONT schreibt über S. tectorum im Jura: "Les populations de S. tectorum du Jura sont généralement constituées de grandes à très grandes plantes, vigoureuses, présentant souvent de belles nuances rose-violacé. Leurs stolons latéraux sont habituellement peu nombreux. Elles forment donc des touffes généralement peu fournies et les exemplaires à rosette unique ne sont pas rares ... Les tectorum jurassiens étant des plantes assez variables, comme tous les représentants de l'espèce et du genre, il serait faux d'affirmer qu'ils sont tous distinguable du type alpin. Cependant, au niveau global des populations, cette distinction existe et est reconnaissable." (In: Sempervivophila, siehe Linktipps). Genauso könnte man die wenigen Hauswurzen der Schwäbischen Alb beschreiben, die möglicherweise urwüchsig sind. Sie ähneln dem Taxon decoloratum bzw. beugesiatum und sind womöglich identisch mit ihm.
Die grünen Rosetten an Standort 2 unterscheiden sich etwas von denen an Standort 2.
Die grünen Rosetten an beiden Standorten sind etwas kleiner als die rötlich getönten. An Standort 2 sind sie manchmal bereift.
Die Blätter dieser rötlichen Rosette sind bereift.
Bereift heißt in diesem Zusammenhang, dass die Blätter mit einer hellen Ausprägung des schützenden Wachsüberzuges bedeckt sind, den man abwischen kann. Diese Bemehlung wirkt dann wie ein hellgrauer Schimmer. Landläufig kennt man solch eine Bemehlung von der Frucht der Zwetschge (Prunus domestica subsp. domestica).
Die rötliche Färbung rührt von Anthozyanen her.
Die Sempervivum tectorum sind wahre Schmuckstücke an den Kalkfelsen der Alb.
Das ebenfalls rötlich gefärbte Sedum ist Sedum album, der Weiße Mauerpfeffer.
Bei den gelben Blüten im Hintergrund handelt es sich um das ebenfalls variable Frühlings-Fingerkraut (Potentilla neumanniana, Syn.: Potentilla tabernaemontani).
Die rote Form von Standort 2 blühte am 23. Juli 2013, also um dieselbe Jahreszeit wie die grüne Form an Standort 1 im Jahr 2001, die am 26. Juli blühend fotografiert wurde..
Da es sich nur um wenige Rosetten an den Standorten handelt. die auch wenig Ableger bilden, und mir außer diesen Fundorten nur ein weiterer Standort auf der Schwäbischen Alb bekannt ist, werden die Fundorte nicht genauer angegeben. Diese wild wachsenden Semperviven sind auch außerhalb eines Naturschutzgebiets streng geschützt.
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Literaturbelege
*ENGEL, Johann Georg (1900): Unsere Schwäbische Alb. Ulm: 198
Worterklärungen
Staminodien im Verlauf der evolutionären Entwicklung unfruchtbar gewordene (sterile) Staubblätter
Anthozyane wasserlösliche Pflanzenfarbstoffe aus der Gruppe der Flavonoide, die Blättern, Blüten und Früchten rote, violette, blaue oder blauschwarze Färbung geben.
Die Worterklärungen folgen zum Teil dem Buch "Rudolf Schubert, Günther Wagner: Botanisches Wörterbuch. Stuttgart (Verlag Eugen Ulmer) 2000"
Manuel Werner, Nürtingen